Wer selbst ein Trauma erlitten hat oder mit Menschen zu tun hat, die an einer Posttraumatischen Belastungsstörung leiden, wird immer wieder an Grenzen stoßen. Warum hilft es, sich selbst zu verletzen? Und wie kann es sein, dass Suizidgedanken „gut tun“? Die Traumatherapeutin und Supervisorin Michaela Huber versucht in diesem Buch verständliche Antworten auf einige dieser Fragen zu geben.
Nicht jedes schreckliche Ereignis ist ein Trauma, sondern man spricht davon, wenn durch ein extrem belastendes Ereignis das Gehirn so überfordert ist, dass normale Bewältigungsmechanismen nicht mehr ausreichen. M. Huber erklärt, warum dann nur noch inneres Wegtreten hilft und das Erlebnis „zersplittert“ abgespeichert wird. Oft haben die Betroffenen Flashbacks, ein Wiedererleben in Bildern und Gefühlen, als würde es gerade jetzt passieren. Und sie leiden nicht nur unter Angst, Albträumen und Konzentrationsstörungen, entwickeln vielleicht Vermeidungsstrategien für alles, was sie an das Trauma erinnert, sondern für viele ist sogar eine positive Zukunft nicht mehr vorstellbar.
In diesem Buch geht es um zwischenmenschliche Gewalttaten, die ja oft in der eigenen oder erweiterten Familie stattfinden. Ein nahestehender Täter, ein Opfer, das sich schuldig fühlt, vielleicht Todesangst hat. Ist man dann noch ein Kind mit einer noch nicht gefestigten Persönlichkeit und kann sich niemandem anvertrauen, wird man mit hoher Wahrscheinlichkeit schwere Schäden davontragen.
Eindrücklich und ausführlich wird geschildert, wie wichtig für Kinder sichere Bindungen sind. Doch wer früh und von nahestehenden Personen misshandelt wird, lebt in der Regel nicht in sicheren Bindungen, und so verwundert es nicht, dass 60-80% der Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung frühe Traumata erlebt haben. Bei oft misshandelten Kindern kann es Veränderungen im Gehirn geben, die wiederum negative Auswirkungen auf die psychosoziale und kognitive Entwicklung der Kinder haben. Es ist also sehr wichtig, traumatisierten Menschen sichere Bindungen zu ermöglichen, auch in einer Therapie, trotz des großen Misstrauens dieser Patienten!
Wer ein Trauma erlitten hat, dissoziiert und sich verletzt, bekommt schnell die Diagnose Borderline. Zu leichtfertig, findet M. Huber, häufig leider auch ohne ausführliche Diagnostik. „Borderline“ könne nicht nur ein Stigma bedeuten, sondern es kämen zu allem anderen noch Probleme hinzu, z.B. in bestimmte Berufe oder sogar Versicherungen hineinzukommen. 75% aller Persönlichkeitsstörungen sind Borderline-Diagnosen! Laut Huber komme der Begriff „komplexe posttraumatische dissoziative Störung“, den es seit einigen Jahren gibt, dem Störungsbild sehr viel näher.
Das Thema Dissoziation wird eingehend erläutert. Was ist das eigentlich, was passiert im Gehirn bei innerem Wegtreten und Abspalten, und wo ist die Grenze zwischen normal und pathologisch?
Es ist der Autorin gelungen, das ebenfalls sehr schwer zu begreifende Phänomen Selbstverletzung verständlich darzustellen. Nur in den seltensten Fällen soll es Erpressung sein, meint sie, auch wenn es Angehörigen so vorkommen mag, die ohnmächtig daneben stehen. Vielmehr ist es ein Mittel zur Stressbewältigung und eine Methode, nicht aushaltbare Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Die Betroffenen können nicht nur sich selbst wieder spüren, sondern auch Schmerz und Erleichterung, und müssen gleichzeitig das unerträgliche innere Leid nicht mehr fühlen.
Doch wer an so schrecklichen Symptomen leidet, will irgendwann nur noch, „dass es aufhört“ – aber das tut es nicht. Der Horror ist da, Tag für Tag, und die Verzweiflung kann übermächtig werden. Todessehnsucht kann chronisch werden und das Wissen, diesen letzten Ausweg immer noch zu haben, sogar beruhigend wirken. Huber bemängelt, dass die Not der Betroffenen oft immer noch nicht ernst genug genommen und das Trauma nicht als Ursache der chronischen Suizidalität gesehen wird.
Eine besondere Form des Missbrauchs ist rituelle Gewalt, die häufig in Sekten oder anderen Kulten stattfindet. Hier muss das Opfer nicht nur selber erleiden, sondern auch zusehen, wie andere Menschen gequält werden, oder es wird gezwungen, andere sogar selber zu misshandeln. Nur wer dissoziiert und das, was er tut oder erlebt, von seinem Inneren abspaltet, erträgt diese Folter überhaupt. Doch erst durch die Dissoziation ist das Opfer so manipulierbar. Durch Gehirnwäsche und Programmierung schafft der Täter Opfer, die wie ferngesteuert sind, und hat dadurch absolute Macht. M. Huber zeigt nicht nur, wie viel Kraft, Mut und Willen es von Betroffenen braucht, sich aus solchen Machtstrukturen zu befreien, sondern auch, was das für den sie begleitenden Therapeuten bedeutet.
Wer sich über das Thema Trauma informieren möchte, trifft mit diesem Buch von Michaela Huber eine gute Wahl. Sie verbindet Ergebnisse der aktuellen Forschung mit ihren eigenen Erfahrungen als Traumatherapeutin, Supervisorin und Ausbilderin und versucht viele grundlegende Fragen zum Thema Trauma zu beantworten. Und ihre immer empathische und respektvolle Haltung den Betroffenen gegenüber, ohne die die Behandlung von schwer traumatisierten Patienten ihrer Meinung nach nicht möglich ist, ist durchweg im Buch zu spüren.