Alkoholsucht, Alkoholismus, Alkoholabhängigkeit, Teil 2

Abhängigkeitserkrankungen – Alkoholabhängigkeit

Alkoholsucht, Alkoholismus, Alkoholabhängigkeit, Alkoholkrankheit

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Warum wird man abhängig? Es gibt eine Vielzahl Theorien zur Suchtentstehung (Alkoholkrankheit). Bei allen Erklärungsversuchen ist zu beachten, dass die Ursache oder die Ursachen von Suchtkrankheiten noch nicht abschließend geklärt sind. Wahrscheinlich spielen viele Faktoren bei der Entstehung von Suchtkrankheiten eine Rolle. Man spricht von einem multifaktoriellen Geschehen. Jeder Mensch kann im Prinzip süchtig werden. Dennoch ist nicht jeder Mensch gleichermaßen suchtgefährdet. Ob sich eine Sucht und welche Sucht sich entwickelt, hängt von der Persönlichkeit des Einzelnen, dem Suchtmittel, dem familiären Umfeld und den sozialen Bedingungen ab. Auffällig ist das statistisch gehäufte Auftreten des Missbrauchs und der Abhängigkeit von Alkohol und anderen Substanzen in sogenannten „suchtbelasteten“ Familien. Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder alkoholabhängiger Eltern eine Alkoholabhängigkeit entwickeln, ist mehr als dreimal so hoch wie das Risiko familiär unbelasteter Kinder. Dennoch können aus dieser hohen Erkrankungswahrscheinlichkeit (Morbidität) bislang keine genetischen Ursachen abgeleitet werden.

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Aus psychoanalytischer Sicht sind Suchterkrankungen grundsätzlich zurückzuführen auf

  • neurotische Störungen,
  • Ich-Funktionsdefizite und strukturelle Mängel,
  • Autoaggressionen.

Neurotische Konflikte können zumindest zeitweise Anlass für exzessives Trinken sein. Hintergrund ist in vielen Fällen die ungelebte ödipale Liebe und die nicht bewusst zugelassene Identifikation mit einem alkoholabhängigen Elternteil, meist der Vater. Ein chronischer Alkoholismus ist hier eher selten. Wesentlich häufiger finden sich bei Abhängigen sogenannte Ich-schwache Persönlichkeiten. Hier ist durch mangelnde Bestätigung und Förderung des Kindes, gelegentlich auch das übermäßige Verwöhnen des Kindes, das Ich zur Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Realität nicht ausreichend entwickelt. Die Affekttoleranz ist gering und auch die Affektdifferenzierung ist defizitär. Gefühle drohen das schwache Ich dann leicht zu überwältigen. Dieser drohenden Dekompensation wird durch die Einnahme des Suchtmittels begegnet. Neben der geringen Affekttoleranz, sind auch die Frustrationstolerenz und die Fähigkeit zur Realitätsprüfung gering. Die Ich-Grenzen gegenüber dem eigenen emotionalen Erleben und den Forderungen der Außenwelt sind brüchig. Bei sogenannten Ich-schwachen Persönlichkeiten ist also das emotionale Erleben gestört und nicht die kognitiven Funktionen wie z. B. das Denken. Bei der Entstehung von Suchtkrankheiten ist auch der Aspekt Autoaggression von Bedeutung. Dabei handelt es sich um Patienten, die auf eine Lebensgeschichte zurückschauen, die voll ist von Traumatisierungen und Unglücken, und zwar bis weit in die Kindheit. Oft wird vom Tod des Vaters oder der Mutter berichtet, von schlimmsten familiären Exzessen, einer Kette von Unfällen, Krankheiten, Suizidversuchen und natürlich auch Suchtmittelexzessen. Den Betroffenen fehlt buchstäblich die Erlaubnis zum Leben, d. h. es fehlen die guten verinnerlichten Objekte, die ein Leben erlauben. In moderner psychoanalytischer Terminologie spricht man von Störungen auf dem Boderline-Niveau. Die Autodestruktion mittels des Suchtmittels steht hier im Vordergrund, wobei es um die Destruktion der internalisierten bösen (Teil-) Objekte geht. Es handelt sich also um eine basale (präödipale) Störung der Identität, einen Mangel an Urvertrauen, die zu einer Störung des Selbsterhaltungstriebes und des Lebenswillens führen. Die ohnehin große Suizidgefährdung (Selbstmordgefährdung) von Suchtkranken ist bei einer Therapie dieser Patienten besonders zu berücksichtigen.

Von wesentlicher Bedeutung für die Entstehung von Suchterkrankungen und sehr häufig anzutreffen, sind die zuvor angesprochenen Ich-Funktionsdefizite, d. h. das Ich kann die Aufgaben zur Selbstbewahrung unter Beachtung der Realität nur unvollständig erfüllen. Bei Abhängigen werden diese Ich-Funktionsdefizite durch das Suchtmittel ausgeglichen. Alkohol, Medikamente, Drogen, . . . dienen als „heilender Ausgleich“ in Situationen, in denen sich das Ich bedroht fühlt, wobei das Suchtmittel sowohl dämpfend als auch schützend wirkt.

Im einzelnen handelt es sich bei solchen Situationen um (Schallehn und Vogelbruck, 1993):

  • einen Schutz gegen starke und bedrohliche Affektzustände (Angst, Wut, Hilflosigkeit und Ohnmacht), wobei das Suchtmittel zugleich Hemmungen beseitigt und ein Ausreagieren ermöglicht,
  • einen Schutz gegen drohende Hoffnungslosigkeit und Abhängigkeitswünsche (besonders bei depressiven Abhängigen),
  • einen Schutz gegen Angst bei einer Gefahr der Ich-Desintegration und
  • die Möglichkeit mit Hilfe des Suchtmittels eine neurotische, psychotische oder sexuelle Symptomatik zu mildern.

Mit zunehmender Abhängigkeit nimmt das Suchtmittel eine zentrale Regulierfunktion ein und hilft dem Abhängigen, sich selbst und seine Beziehungen zu organisieren. Ich-Funktionsdefizite gehen auf massive Störungen in der frühkindlichen Entwicklung zurück. Dabei sind aus psychoanalytischer Sicht die frühen Liebesobjekte und die entsprechenden Objektbeziehungen der ersten Lebensjahre entscheidend (basale Störung). Ich-Funktionsdefizite entstehen als Folge eines stark ambivalenten, mit Liebe und Hass besetzten Erlebens der frühen Liebesobjekte des Suchtkranken. Diese Ambivalenz kann sich bei einer mangelnden Versorgung und auch bei einer Überversorgung entwickeln. Frühes Liebesobjekt ist in der Regel die Mutter. Die internalisierte (verinnerlichte) Ambivalenz von gleichzeitig bestehenden intensiven Gefühlen von Libido und Aggression verhindert den zur inneren Reifung und zur Autonomie erforderlichen Fusionsprozess von „guten“ und „bösen“ Teilobjekten (Objektbeziehungstheorie), so dass sich eine brüchige innere Struktur der Selbst- und Objektrepräsentanzen entwickelt. Dadurch fehlt die Grundlage für die Bildung einer Selbst- und Objektkonstanz, die wiederum für die Entwicklung von positiven Selbstwertgefühlen und die Beziehung zu anderen Objekten fundamental ist. Dem Abhängigen fehlen demnach eine gesicherte Selbstkonstanz (Selbstwertgefühl) und eine ausreichende Objektkonstanz (Umgang mit den eigenen Emotionen und eine Konstanz emotionaler Beziehungen). Daher werden Objektbeziehungen häufig als überfordernd erlebt. Aufgrund des fehlenden Selbstwertgefühles fühlt sich der Abhängige bis zu einem gewissen Grade hilflos ausgeliefert. Das defizitäre Ich muss sowohl die Steuerung und Kontrolle dieser Repräsentanzen als auch die Regulation des vorhandenen Mangels übernehmen und ist dieser Aufgabe nur eingeschränkt gewachsen. Die Auseinandersetzung mit der Realität wird zunehmend schwieriger. Das Suchtmittel wird mehr und mehr zum „Regulator“. Es ist einleuchtend, wenn Abhängige rückblickend äußern: „Ich war bereits nach der ersten Einnahme des Suchtmittels (nach meinem ersten Glas Bier, nach der ersten Tablette …) abhängig.“Der Betroffene „erkennt“, die sein Ich „schützenden und organisierenden“ Funktionen des Suchtmittels sehr oft sofort (Erstkontakt). Das Suchtmittel wird dann zunehmend in bedrohlichen Situationen und Beziehungen eingesetzt und dient als Werkzeug, den großen Wunsch nach Stabilisierung, Regulation und Schutz zu erfüllen, mit der Möglichkeit die illusionäre Vorstellung von einem narzisstischen Zustand des Wohlbefindens „einzustellen und aufrechtzuerhalten“. Ein Alkohol-, Medikamenten- und/oder Drogenabusus ist daher aus psychoanalytischer Sicht als ein Symptom zu verstehen, das Ausdruck einer Persönlichkeitsentwicklung mit strukturellen Mängeln, Ich-Funktionsdefiziten und narzisstischer Problematik ist. Natürlich werden die Ich-Defizite durch die Einnahme des Suchtmittels nicht verringert oder Probleme gelöst. Ganz im Gegenteil, spätestens wenn im Übermaß auf das Suchtmittel zurückgegriffen wird, wenn z. B. exzessiv getrunken wird, werden die bereits bestehenden Minderwertigkeitsgefühle weiter vergrößert und Probleme verschärft. Der Betroffene wird in einem Teufelskreis immer unfähiger, seine Gefühle und Beziehungen zu bewältigen. Wenn Abhängige eine Abstinenzentscheidung treffen und ein abstinentes Leben beginnen, geht es Ihnen als Folge der (noch vorhandenen) Ich-Defizite, einer Störung des Selbstwertgefühls (basale Störungen) und/oder einer vorhandenen neurotischen Störung daher sehr häufig schlechter als zuvor. Sie leiden an Schlafstörungen, Angstzuständen, Depressionen oder unkontrollierbaren Zuständen von innerer Spannung und Aggressivität, entwickeln unterschiedliche körperliche Symptome (Konversion), geben im Extremfall alle sozialen Kontakte auf und werden suizidal.

Im Hinblick auf die Persönlichkeit des Einzelnen sind folgende Faktoren für die Entwicklung von Suchterkrankungen von Bedeutung: Selbstunsicherheit und Minderwertigkeitsgefühle (Komplexe), chronische Langeweile und Hoffnungslosigkeit, Beeinflussbarkeit, Problemverdrängung, Kontaktstörungen und Geltungsdrang. Der Betroffene versucht, der Realität zu entfliehen und in eine Phantasiewelt zu entkommen. Er erhofft sich vom Alkohol eine höhere Leistungsfähigkeit, die Lösung seiner finanziellen Schwierigkeiten, Angst- und Schmerzfreiheit, Ruhe, Entspannung und Harmonie. Durch den Griff zum Alkohol werden aber die Probleme nicht gelöst, wird die Leere nicht gefüllt.

Aus der Sicht der Verhaltenstherapie wird Suchtverhalten erlernt. In der Biographie Süchtiger findet man relativ häufig gestörte Familienverhältnisse (s. o.). Oft sind Eltern oder Geschwister suchtkrank oder leiden unter anderen psychischen Erkrankungen. Diese Randbedingungen und die Wirkung des Suchtmittels führen dazu, dass Abhängigkeit geradezu erlernt wird. Am Beispiel des Alkoholkonsums heißt das z. B.: Eine eher unsichere und ängstliche Person macht die Erfahrung, dass sie unter Alkoholeinfluss wesentlich gelöster ist und leichter in Kontakt mit anderen kommt. Sie lernt so, dass Alkohol eine (scheinbare) Hilfe und Lösung bei Kontaktproblemen ist.