Suchtentstehung
Sucht ist eine Krankheit, die auf nachweisbaren Veränderungen im Gehirn beruht. Beginnend mit natürlichen Anpassungsreaktionen auf Drogen aller Art wechseln Nervenzellen (Neuronen) zunächst ihren Erregungszustand. Bereits nach kurzer Zeit ändern sich die Art, Menge und Zusammensetzung zahlreicher Biomoleküle, die an der Übertragung von Signalen beteiligt sind. Bei einem längerem Substanzmissbrauch können sich auch die Verknüpfungen der Neuronen untereinander verändern, bis hin zu Veränderungen bestimmter Hirnteile, die mit dem bloßem Auge sichtbar sind.
Offensichtlich spielen bei der Entstehung von Verhaltensmustern auch soziale und psychologische Faktoren sowie die Erbanlagen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Verhaltensmustern, die den Drogenkonsum beeinflussen. Dabei stehen biochemische, psychosoziale und genetische Modelle der Suchtentstehung längst nicht mehr als gegensätzliche und unvereinbare Erklärungsversuche nebeneinander. Sie erscheinen vielmehr im Licht aktueller Forschungen als unterschiedliche Aspekte des gleichen Phänomens. Es stellt sich heraus, dass nicht nur Drogen und Medikamente biochemische Vorgänge im Gehirn beeinflussen. Art und Umfang der Erziehung, persönliche Kontakte oder Schicksalsschläge sind wesentliche Faktoren für die Entwicklung unseres Denkorgans. Auch Verhaltensänderungen, wie sie bei verschiedenen nicht medikamentösen Therapien erlernt werden, hinterlassen ihre Spuren in den grauen Zellen. Unser Gehirn funktioniert nicht nach einem festen Schaltplan, bei dem jeder Reiz mit einer unabänderlichen Reaktion gekoppelt wäre. Im Gegenteil erweist sich das Organ unter unserer Schädeldecke als der flexibelste und anpassungsfähigste Körperteil. Mit seinen schätzungsweise 100 Milliarden (100 000 000 000) Nervenzellen oder Neuronen empfängt, bewertet und gewichtet das Gehirn ständig die Meldungen unserer Sinnesorgane über die Außenwelt. Es ermittelt gleichzeitig elementare körperliche Bedürfnisse wie Essen, Trinken oder Wärme und sucht nach der besten Möglichkeit, diese Bedürfnisse zu stillen.
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Schon Kleinkinder erproben die verschiedensten Strategien, um ans Ziel ihrer Wünsche zu gelangen. Erfolgreiche Versuche führen zu einem Gefühl der Zufriedenheit oder des Glücks, und diese Belohnung hilft, uns daran zu erinnern. Je öfter ein bestimmtes Verhalten belohnt wird und je größer diese Belohnung ausfällt, desto intensiver wird die Erinnerung. Weil Drogen besonders intensive Glücksgefühle auslösen können, lag die Vermutung nahe, dass auch sie auf das „Belohnungssystem“ des Gehirns einwirken. Tatsächlich nehmen Versuchstiere wie Affen, Ratten und Mäuse enorme Strapazen in Kauf, wenn sie die Möglichkeit haben, sich Suchtstoffe wie Kokain oder Heroin durch Drücken eines Hebels selbst in die Blutbahn zu spritzen. Erlaubt man Ratten, ein bestimmtes Hirnareal (das Ventrale tegmentum, abgekürzt VT) durch das Drücken eines Hebels direkt elektrisch zu stimulieren, so tun sie dies bis zur totalen Erschöpfung und vernachlässigen darüber lebenswichtige Aufgaben wie Essen und Trinken. Dass das VT Teil des Belohnungssystems ist, zeigen auch Bildgebungsverfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) oder die Positronen- Emissions-Tomographie (PET). Sie offenbaren Unterschiede zwischen süchtigen und nicht süchtigen Personen unter anderem im Energieverbrauch ganzer Hirnregionen sowie in der Menge und Verteilung von Botenstoffen und deren Andockstellen auf den Nervenzellen, den Rezeptoren. In einem Experiment mit heroinsüchtigen Patienten fand man zum Beispiel eine extrem starke Aktivierung des VT, kurz nachdem die Süchtigen ihre Droge erhalten hatten und während sie ihr „high“ durchlebten. Ein weiterer Versuch, bei dem die Gehirne männlicher Probanden während des Orgasmus kartiert wurden, ergab ebenfalls die mit Abstand stärkste Aktivierung in dieser Hirnregion. Viel gelernt hat man auch aus Rattenexperimenten, bei denen die Nager das Interesse an Drogen verloren, nachdem bestimmte Hirnregionen zerstört oder mit Chemikalien lahm gelegt wurden. Obwohl längst nicht alle Details erforscht sind, weiß man heute, dass fast alle Drogen auf das Belohnungssystem des Gehirns einwirken.
Neben dem „Lustzentrum“ VT gehört dazu ein Bündel von Nervenfasern, welches das VT mit dem so genannten Nucleus accumbens verbindet, und sich von dieser Umschaltstation in die vordere Großhirnrinde erstreckt. Weitere wichtige Bestandteile des Belohnungssystems sind der an der Verarbeitung von Emotionen beteiligte Mandelkern und der seitliche Bereich des Hypothalamus, dem „Zentrum“ für Hunger, Durst und Sexualität. Die Aktivierung und dauerhafte Veränderung dieses Systems scheint der gemeinsame Nenner zu sein, der Abhängige dazu zwingt, weiterhin Drogen zu nehmen. Noch tiefere Einblicke in die Entstehung von Suchterkrankungen erlauben die Methoden der Molekularbiologie, Neurophysiologie und Biochemie, mit denen sich Veränderungen einzelner Nervenzellen und ihrer Botenstoffe (Neurotransmitter) erfassen lassen. Diese Botenstoffe liegen jeder Empfindung zugrunde, denn sie übertragen Reize von einer Nervenzelle zur nächsten. Neuronen sind nämlich nicht direkt miteinander verbunden, sondern durch einen winzigen Spalt – die Synapse – voneinander getrennt. Reize, die hier zunächst als elektrische Impulse ankommen, führen zur Ausschüttung von Botenstoffen, die als „chemische Nachricht“ durch die Synapse zur benachbarten Nervenzelle driften. Auf der Oberfläche der jeweils nachgeschalteten Nervenzelle können die Botenstoffe an spezifische Rezeptoren andocken und dadurch wiederum erregende oder hemmende elektrische Reize erzeugen. Mehr als 50 verschiedene Botenstoffe des Gehirns und ein Vielfaches an zugehörigen Rezeptoren haben Neurowissenschaftler bis heute entdeckt. Einige von ihnen spielen im Suchtgeschehen eine tragende Rolle, so etwa die Botenstoffe Glutamat, GABA (Gamma-Amino-Buttersäure), Dopamin, Serotonin, Noradrenalin und Acetylcholin.
Und es ist kein Zufall, dass die chemische Struktur zahlreicher Drogen diesen Botenstoffen ähnelt. Der mit Abstand wichtigste Neurotransmitter ist Dopamin. Nur einige zehntausend unter den schätzungsweise 100 Milliarden Nervenzellen des Gehirns produzieren das „Meistermolekül“ der Sucht, doch gerade diese Zellen sind es, welche die Bestandteile des Belohnungssystems miteinander verbinden. Ursprünglich dachte man, dass Dopamin immer dann von den Nervenzellen des Belohnungssystems ausgeschüttet würde, wenn das Verlangen nach einer Droge befriedigt wird. Die Mehrheit der Forscher neigt aber mittlerweile zu der Auffassung, die Ausschüttung von Dopamin lenke die Aufmerksamkeit des Gehirns auf bedeutsame oder überraschende Vorfälle. Dazu gehören nicht nur ein schmackhaftes Essen, Sex und Drogen, sondern auch Ereignisse oder Situationen, die eine Belohnung verheißen. Dies zeigen zum Beispiel Experimente, bei denen im Nucleus accumbens männlicher Ratten der Dopaminspiegel schon bei dem Anblick eines paarungsbereiten Weibchens in die Höhe schnellte. An der schweizerischen Universität Fribourg „belauschte“ der Neurophysiologe Wolfram Schultz einzelne Dopamin produzierende Nervenzellen im Gehirn wacher Affen. Die Zellen feuerten zunächst beim Anblick von Bananen. Doch als die Tiere lernten, dass vor den Leckerbissen ein Licht anging, änderte sich das Verhalten der Neuronen. Diese reagierten jetzt nicht mehr auf das Futter selbst, sondern auf das Licht, das diese Belohnung ankündigte. Dopamin scheint demnach als ein Aufmerksamkeitssignal zu funktionieren, das jene Reize betont, die eine Belohnun vorhersagen oder an eine Belohnung gekoppelt sind. Drogen greifen in dieses elementare System ein, indem sie – direkt oder indirekt – die Menge an freiem Dopamin zwischen den Nervenzellen des Nucleus accumbens erhöhen. Amphetamin, Kokain und dessen gerauchte Form Crack blockieren beispielsweise die Recyclingpumpe, mit der Dopamin nach getaner Arbeit aus dem synaptischen Spalt wieder in die Vorratsbehälter der Nervenzelle zurück transportiert wird. Der Botenstoff wirkt dann länger als normal, und die betroffene Person empfindet kurzfristig ein euphorisches Gefühl.
Heroin und Nikotin wirken dagegen vorwiegend im VT. Während Heroin und andere Opiate die Ausschüttung des dämpfenden Botenstoffs GABA verringern, stimuliert Nikotin direkt. Das Resultat ist in beiden Fällen gleich, und die Dopamin produzierenden Zellen schütten an ihren Fortsätzen im Nucleus accumbens mehr Botenstoff aus.
Besonders kompliziert ist die Wirkung von Alkohol zu erklären, weil diese Substanz einerseits direkt die Ausschüttung der Botenstoffe Serotonin und Noradrenalin beeinflusst, andererseits aber an drei sehr verschiedenen Rezeptormolekülen bindet. Die – zumindest anfänglich – beruhigende Wirkung des Alkohols rührt daher, dass er die dämpfend wirkenden GABA-Rezeptoren aktiviert und zugleich die so genannten NMDA-Rezeptoren „verstopft“, so dass dort der erregend wirkende Botenstoff Glutamat nicht mehr andocken kann. Auf die in der Summe zweifach dämpfende Wirkung des Alkohols zeigt das Gehirn nach wiederholtem Konsum eine Gegenreaktion: Es verringert die Zahl der GABARezeptoren auf den Nervenzellen und erhöht gleichzeitig die Zahl der NMDA-Rezeptoren, um die ursprüngliche Balance zwischen erregenden und dämpfenden Signalen wieder herzustellen. Diese Anpassungsreaktion ist eines von zahlreichen Beispielen dafür, wie sich das Gehirn unter dem Einfluss von Drogen allmählich verändern kann. Zwar wird kein Schalter umgelegt und der Betroffene nicht schlagartig süchtig. Dennoch wird ein Gewohnheitstrinker in dieser Phase feststellen, dass er allmählich größere Mengen Alkohol benötigt, um die gewünschte Beruhigung zu erfahren.
Dieses Phänomen, das als Toleranz bezeichnet wird, findet man auch beim Konsum anderer Drogen. Auf längeren Gebrauch von Metamphetamin oder Kokain reagiert das Gehirn mit einer Reduktion der Dopamin-Rezeptoren. Das Gehirn kann dann ohne Kokain nicht mehr genug Dopamin an die Rezeptoren schicken, um ein Lustgefühl auszulösen. Dieser Effekt ist selbst Monate nach einer Entzugsbehandlung noch nachweisbar und scheint die Prioritäten der Betroffenen zu verändern. „Es stimmt nicht, dass die cracksüchtige Mutter ihr Kind nicht liebt“, sagt Alan Leshner, Leiter des Nationalen Drogenforschungsinstituts der Vereinigten Staaten (NIDA). „Aber sie liebt ihre Droge jetzt noch mehr als das Kind.“ Der Versuch, das natürliche Gleichgewicht im Gehirn wieder herzustellen, führt zu vorübergehenden Entzugserscheinungen. Verweigert man im obigen Beispiel dem Trinker seinen Alkohol, so trifft der erregende Botenstoff Glutamat plötzlich auf viele freie Bindungsstellen, während der dämpfende Gegenspieler GABA nur eine reduzierte Zahl von Rezeptoren findet. Die Folgen sind eine große innere Unruhe, Nervosität und Überempfindlichkeit bis hin zu lebensbedrohlichen Krampfanfällen. Gewohnheitsraucher, denen man in einer Studie für 24 Stunden ihre Zigaretten wegnahm, reagierten mit Feindseligkeit, Aggression und der Verweigerung der Zusammenarbeit. Führt man den Entzug ohne Medikamente und Psychotherapie fort, treten in den folgenden Tagen häufig Angstgefühle und Depressionen auf. Umfang und Dauer der Veränderungen, die sich während dieser Zeit im Gehirn abspielen, sind bei Nikotinabhängigen ähnlich wie bei Konsumenten von Kokain, Opiaten, Amphetamin und Alkohol.
Die Veränderung des Gehirns bei Suchterkrankungen vollzieht sich also nicht auf einen Schlag, sondern allmählich. Toleranz sowie der gegenläufige Effekt einer zunehmenden Empfindlichkeit (Sensibilisierung) auf Drogen stehen am Anfang und lassen sich auf allgemeine Anpassungsprozesse des Nervensystems zurückführen. Dies erklärt, wie Missbrauch zu Abhängigkeit führt.
Das entscheidende Merkmal einer Sucht ist jedoch der Kontrollverlust, also die Unfähigkeit, den Konsum trotz offensichtlicher Schäden für die Gesundheit aufzugeben. Hierfür müssen die anfänglich noch umkehrbaren Veränderungen im Nervensystem fixiert werden. Mit großer Sorgfalt unterscheiden Experten zwischen dem Substanzgebrauch, dem Missbrauch sowie der körperlichen und psychischen Abhängigkeit. Die letzte Stufe ist erreicht, wenn die Gier nach der Droge den gesunden Menschenverstand überwältigt und die Abhängigen einen Zwang verspüren, dem sie nicht mehr widerstehen können. Dieser Zustand ist nach Meinung der meisten Experten die Folge eines Lernprozesses, bei dem eine Verbindung hergestellt wurde zwischen der angenehmen Erinnerung an die Wirkung der Droge und anderen, unbewusst wahrgenommenen Reizen zum Zeitpunkt der Drogeneinnahme. Dies können Orte sein wie die Lieblingskneipe oder Freunde, mit denen man bei einigen Zigaretten immer wieder tiefgründige Gespräche geführt hatte. Alkoholiker mögen beim Geruch von Bier schwach werden, für Heroinsüchtige kann dazu der Anblick eines nackten Armes genügen. Diese mit dem früheren Konsum verbundenen Reize werden von den Abhängigen zwar nicht bewusst wahrgenommen; sie sorgen aber im Gehirn dafür, dass mehr Dopamin ausgeschüttet wird. Somit wird die Aufmerksamkeit der Süchtigen auf die Droge gelenkt, statt auf biologisch Bedeutsames hinzuweisen. Das Belohnungssystem ist auf Dauer zweckentfremdet und die „Umprogrammierung“ des Gehirns abgeschlossen. Therapeuten gilt das so genannte Suchtgedächtnis als das größte Hindernis, denn es führt dazu, dass das Verlangen („Craving“) nach einer Substanz den erfolgreichen Entzug um viele Jahre überdauert. Diese Erkenntnis setzt man bei Verhaltenstherapien um. Sie sollen den Abhängigen auf die versteckten Reize aufmerksam machen und ihn lehren, diesen aus dem Weg zu gehen. Ein viel versprechender Ansatz ist außerdem das von deutschen Wissenschaftlern entwickelte Konzept der Rückprägung, mit dem das Suchtgedächtnis gelöscht oder überschrieben werden soll. Warum längst nicht jeder süchtig wird, der freien Zugang zu Drogen hat, ist eine Frage, die Forscher schon lange beschäftigt. Soziale und psychologische Faktoren tragen wesentlich zur Entwicklung einer Abhängigkeit bei. So weiß man, dass Menschen, die einen großen Teil ihrer frühen Kindheit in Heimen verbringen mussten, besonders gefährdet sind. Bekannt ist auch, dass Arbeitslosigkeit ein bereits bestehendes Alkoholproblem verschärfen kann. Ganz allgemein gilt, dass mit der Kluft zwischen den eigenen Wünschen und sozialen Möglichkeiten auch die Gefahr maßlosen Alkoholkonsums wächst und dass die gesellschaftliche Ablehnung und Stigmatisierung von Abhängigen deren soziale Isolation verschlimmert. Dabei scheinen manche gesellschaftlichen Konstellationen die Entstehung einer Substanzabhängigkeit im Wesentlichen durch die Förderung eines Suchtgedächtnisses zu begünstigen; es handelt sich also um einen Lernprozess. Wie gesellschaftliche und biochemische Faktoren zusammenwirken, versteht man beim Phänomen Stress schon recht gut. Hier beeinflussen bestimmte Hormone die Empfindsamkeit des Belohnungssystems. Die Wechselwirkungen zeigen sich etwa im Verhalten sozial isolierter Versuchstiere, bei denen sich das Auf und Ab der Stresshormone verfolgen lässt. Rhesusaffen, die ohne Mütter aufwachsen, trinken als Erwachsene extrem viel Alkohol, sind aggressiv und gereizt. Für Nikotin liegen ebenfalls Ergebnisse vor, die zeigen, dass Stress und Angst die Abhängigkeit beeinflussen. Das Stresshormon Corticosteron mildert beispielsweise bei Ratten die Wirkung von Zigaretten. Dann müssen die Tiere mehr Nikotin inhalieren, um den gleichen Effekt zu er erzielen. Und Menschen, die einen Nikotinentzug durchmachen, brauchen länger, um ihr emotionales Gleichgewicht wieder zu finden, wenn sie unter Stress stehen. Den Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und Stress konnten Wissenschaftler teilweise schon bis hinunter zu den Wechselwirkungen zwischen einzelnen Molekülen verfolgen. So haben Forscher am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München Mäuse gezüchtet, bei denen die zentrale Schaltstelle für die Stressreaktion gestört ist. Den Tieren fehlt ein Empfangsmolekül mit dem komplizierten Namen Corticotropin-Releasing Hormone Rezeptor Typ 1, das normalerweise das Stresshormon CRH aufnimmt. Die so genannten Knockout-Mäuse trinken nun unter normalen Bedingungen die gleiche Menge Alkohol wie gesunde Artgenossen. Setzt man sie jedoch mehrmals kurzfristig unter Stress, so vervierfachen die Mausmutanten ihren Konsum binnen fünf Monaten, während der Alkoholkonsum der Kontrolltiere fast gleich bleibt. „Offensichtlich ist ein intaktes zentrales Stresssystem erforderlich, um das Risiko für Alkoholismus nach wiederholter Stresserfahrung zu reduzieren oder auszuschließen“, sagt Inge Sillaber, Leiterin der Münchner Arbeitsgruppe. Neben sozialen Faktoren spielen Gene eine wichtige Rolle bei der Suchtentstehung. Bei Alkoholismus, Opiat- und Kokainabhängigkeit wird ihr Anteil auf fast 50 Prozent geschätzt. Für Verwandte ersten Grades von Alkoholabhängigen steigt daher das Risiko, selbst zu erkranken, auf das bis zu Siebenfache gegenüber dem Bevölkerungsdurchschnitt. Für den Großteil der Bevölkerung dürften Gene allerdings nur indirekten Einfluss auf die Suchtgefährdung haben, weil sie beispielsweise die Stressempfindlichkeit mitbestimmen oder das Lernvermögen. So wird immer wieder deutlich, dass Suchtverhalten in aller Regel nicht auf einen einzigen Faktor zurückgeführt werden kann. Es ist vielmehr das Ergebnis komplexer Wechselwirkungen zwischen der individuellen genetischen und psychischen Konstitution sowie dem gesellschaftlich- kulturellen Umfeld. Dies mag erklären, warum Wissenschaftler auf der Suche nach allgemeinen „Suchtgenen“ immer wieder Rückschläge erlitten haben. Populationsstudien bei Finnen und Indianern ergaben zwar Hinweise auf eine Rolle des Serotonin-Rezeptors 5-HT1B beim „antisozialen“ Typ von Alkoholikern, doch ist unklar, ob Variationen dieses Empfängermoleküls auch bei anderen Bevölkerungsgruppen bedeutsam sind. Seit längerem bekannt ist dagegen die Tatsache, dass viele Asiaten andere Variationen der Enzyme Alkohol-Dehydrogenase und Aldehyd-Dehydrogenase besitzen als Europäer. Beide Biokatalysatoren spielen beim Abbau des Alkohols eine Schlüsselrolle. Im Blut dieser Menschen sammeln sich deshalb schon nach wenigen Drinks größere Mengen des giftigen Stoffwechselprodukts Acetaldehyd an, und die Betroffenen erleiden einen extremen Kater. Diese Menschen sind sehr viel weniger gefährdet, alkoholabhängig zu werden, als „trinkfeste“ deutsche Jugendliche, die ihre Stärke damit demonstrieren wollen, dass sie andere „unter den Tisch saufen“. Analog zum Alkohol hat man auch bei der Nikotinabhängigkeit einen Biokatalysator entdeckt, der den Abbau des Suchtstoffs im Körper verlangsamt. Die Variante des Stoffwechsel-Enzyms CYP2A6 verringert die Gefahr, von Zigaretten abhängig zu werden. Besonders eindrucksvoll sind Tierversuche mit „Knock-out“-Mäusen, denen Forscher bestimmte Gene gezielt abgeschaltet oder entfernt haben. Mit den Methoden der Molekularbiologie lässt sich inzwischen sogar die Produktionsmenge von Eiweißen recht präzise steuern, und man kann diese Biomoleküle zu einem beliebigen Zeitpunkt in ausgewählten Zelltypen oder Organen herstellen lassen.
So hat man beispielsweise Mäuse gezüchtet, deren Nervenzellen der Dopamintransporter zum Recycling dieses Botenstoffs fehlt. Sie rasen stundenlang im Käfig herum, verlieren schnell an Gewicht, weil sie sich keine Zeit zum Essen nehmen und fallen schließlich erschöpft um, weil sie nicht schlafen können. Der schlagende Beweis für die Wichtigkeit des Dopamintransporters ist aber, dass diese Knock-out-Mäuse unempfänglich sind für die Wirkung von Kokain. Derartige Befunde haben unter Wissenschaftlern zahlreiche Spekulationen ausgelöst. Könnte nicht eine hoch effiziente Version des Dopamintransporters beim Menschen das Risiko erhöhen, an einer gewalttätig-impulsiven Form des Alkoholismus zu erkranken? Und könnten genetische Unterschiede die Empfindlichkeit der Dopamin-Rezeptoren so beeinflussen, dass das Lustempfinden ihrer Träger variiert? Eine – umstrittene – Theorie besagt sogar, dass viele schwere Alkoholiker, krankhafte Glücksspieler, Fettsüchtige und hyperaktive Menschen einen niedrigen Dopaminspiegel gemeinsam hätten, und dass all diese Fälle durch eine bestimmte Variante des Dopamin-Rezeptors D2 verursacht würden. Mehr als 40 verschiedene genetisch veränderte Mausstämme haben Wissenschaftler bisher geschaffen, die unter dem Einfluss von Psychostimulanzien auffällige Verhaltensänderungen zeigen. So konnte die Bedeutung des Cannabis-Rezeptors CB1 und eines wichtigen Bestandteils des „nikotinisch cholinergen Rezeptors“ aufgezeigt werden. Ohne diese Andockstellen interessieren sich die Knock-out-Mäuse kaum noch für Alkohol, Morphin oder Kokain. Auch wenn derartige Befunde nicht ohne weiteres auf den Menschen übertragbar sind, so helfen sie doch, die Schlüsselmoleküle zu identifizieren, die an der Suchtentstehung beteiligt sind. Neben Botenstoffen und Rezeptoren fanden Neuroforscher dabei in jüngster Zeit auch zahlreiche Bestandteile von Signalketten, die im Innern von Nervenzellen die Wirkung von Drogen vermitteln. Man hofft nun, dass die ständig wachsende Zahl von Zielmolekülen die Pharmaindustrie beflügeln wird und dabei hilft, erstmals hochwirksame Medikamente gegen Suchterkrankungen zu entwickeln.